Alpenüberquerung
Dienstag, 01.08.2017
Ich werde von einem unbekannten Geräusch geweckt. Schlaftrunken taumle ich ins Bewusstsein. Irgendjemand oder irgendetwas rüttelt und schüttelt an meinem Zelt. Groß muss "Es" sein, das mich derart vom Tiefschlaf in Alarmbereitschaft katapultiert. Und ungewöhnlich warm kommt mir der frühe Morgen vor. Gestern Abend, mit dem einsetzenden Gewitter und der Müdigkeit, hatte ich gefröstelt und den Reißverschluss meines Schlafsacks bis oben auf Anschlag zugezogen. Jetzt aber will ich aus thermischen Gründen möglichst schnell raus aus meiner "Penntüte". Als ich die Apsis meines Zeltes öffne bläst der Föhnsturm mit voller Wucht in meine Behausung und bläht sie bedrohlich auf. Doch die zarten lightweight-Heringe meines Zeltes tun ihren Job. Zum wiederholten Mal nach dem Regen gestern und heute Nacht, sowie dem starken Föhnsturm jetzt bin ich von meinem Leichtzelt "Trek Santiago" für nicht einmal 65 € schwer beeindruckt.
Nichts hält mich mehr in meinem Nachtlager. Nach der der Wassertemperatur geschuldeter Katzenwäsche im Brendlsee steige ich zum Tajatörl auf. Ein Rudel Gämsen ist mein freundlicher Weggefährte und schaut etwas arrogant spöttisch auf mich, den in ihren Augen Möchtegern-Bergsteiger. Am Scheitelpunkt des Tajatörls (2.259 m NHN) nehme ich die bedrohlich wirkende, weil extrem steil und brüchig aussehende Grünkarscharte erst mit dem Fernglas, dann auf Schusters Rappen in Angriff, wofür ich allerdings erst gut 100 Höhenmeter absteigen muss. Der Blick hinunter zum Drachensee und der Coburger Hütte ist grandios. An dieser Stelle verlasse ich das mir bekannte Terrain.
Mein Körper funktioniert mechanisch. Trittsicher schraube ich mich durch das Schotterfeld der Grünkarscharte nach oben. Mal auf deutlich sichtbarem Steig, dann mehr oder weniger weglos. Der komplette Hang scheint unter meinen Füßen in Bewegung zu sein. Kein Ort, an dem man längere Zeit verweilen möchte. An möglichen Steinschlag von den bedrohlich nahen Felszacken links und rechts der Grünkarscharte zwinge ich mich nicht zu denken. Mein Puls beschleunigt meine Schritte. Ich überhole zwei ältere Damen. Die ersten Menschen an diesem jungen Tag. Wenn die "Omas" das packen, dann ich erst recht, sporne ich mich an und erreiche kurz darauf ohne nennenswerte Schwierigkeiten das Joch (2.263 m NHN). Keine 2 Minuten später kommt die erste der beiden Omas ebenfalls an. Verdammt ist die Alte fit! Ich hasse sie dafür genauso wie den Mountainbike-Jogger von gestern und beginne den langen Abstieg in die "Hölle". Name ist Programm. Ein kaltes Gösser-Radler auf dem Lehnbachhaus ist meine Motivation durchzuhalten.
Nach Gösser-Radler und einem anregenden Gespräch mit dem Hüttenwirt dehnt sich der Wandertag in die Unendlichkeit. Die Sonne prügelt gnadenlos vom Himmel. Ich durchlaufe das Gurgltal zwischen Nassereith und Imst mehr in Trance als bewusst. Keine Faser an meinem Körper ist noch trocken. Ich nage während des Gehens an Beef-Jerky, dem Eiweiß-Energiespender, den ich daheim mit meiner Frau als Fernwanderproviant selsbt hergestellt hatte. Ständiger Durst quält mich. Mehrmals entkeime ich mit meinem SteriPEN Wasser aus dem Gurglbach. Ich trinke viel und bin trotzdem am Verdursten. In einer Tankstelle in Tarrenz kaufe ich mir zwei Dosen Red Bull aus dem Kühlschrank. Die erste Dose "verdunstet" noch in der Tankstelle, die zweite begleitet mich einige wenige Meter auf meinem Weitertweg nach Imst. Ich suche nach einer Herberge für die Nacht. Abgesehen davon, dass wieder heftige Abendgewitter angesagt sind brauche ich dringend eine Dusche und - genauso wichtig - warmes Wasser um meine verstaubten und verschwitzten Wanderklamotten endlich auszuwaschen. Auf meinem scharzen T-Shirt kann ich an den Salzrändern den Verlauf der letzten drei Wandertage ablesen. Auf Wanderschaft relativieren sich die Hygieneansprüche in erschreckender Geschwindigkeit!
In einer Pension bei "Oma und Opa" werde ich freundlich und etwas bemitleidend aufgenommen, sie wollen nicht glauben, dass ich nicht einmal ein Fahrrad dabei hätte. Ich falle nach einer ausgiebigen Dusche und dem Waschen meiner Wanderklamotten schnell in einen traumlosen Schlaf. Der alte Röhrenfernseher in meinem Gästezimmer bleibt unangeschaltet. Die Welt um mich herum ist mir sch...egal!
Euer Andy!
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