Dienstag, 9. Februar 2021

Alpenüberquerung 7/9 04.08.2017

Alpenüberquerung

Freitag, 04.08.2017


Die Zeiger meiner Armbanduhr stehen auf 11 Uhr 28. Es ist der 4. August 2017, ein Freitag. Ich erreiche in diesem Moment den höchsten Punkt und gleichzeitig den Höhepunkt meiner Alpenüberquerung – meiner ersten Fernwanderung überhaupt. Mein Standort: 3.210 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Tisenjoch an der Grenze zwischen Tirol in Österreich und Südtirol in Italien. Am 19.09.1991 wurde hier der mumifizierte Leichnam von "Ötzi" einem schmelzenden Gletscher entrissen. Drei unscheinbare, dunkelrote Farbtupfer markieren den Fundort in einer Felsengasse.

 

Ich bin müde und erschöpft. Die Nacht war so kalt, dass ich kaum schlafen konnte. Im eiskalten Gletscherbach neben meinem Lagerplatz war nur Katzenwäsche möglich. Jetzt dagegen bin ich überhitzt und verschwitzt. Schweiß brennt in meinen Augen. Meine Beine sind zittrig und schwer. Ich habe das Gefühl, meine Schuhsohlen seien aus Blei. Meine Schultern sind vom tagelangen Tragen des schweren 40-Liter-Rucksacks verspannt und schmerzen höllisch. Mein Puls rast, mein Körper ringt mit der dünnen Höhenluft. Ich habe Hunger, fühle mich jedoch zu kaputt zum Essen.

Mein Mund ist trocken, meine Lippen aufgerissen. Ich hatte in den vergangenen Stunden zu wenig getrunken. Seit dem Morgen habe ich nur ein Ziel: die Fundstelle von Ötzi zu erreichen. Doch trotz aller körperlichen Kalamitäten ist meine Unternehmungslust ungebrochen. Der Himmel ist von einem makellosen Blau und die Sonne erwärmt die vegetationslose Hochgebirgslandschaft auf angenehme 20°C. Ich spüre die prickelnde Magie, die diesen besonderen Ort beseelt. Ich lege eine Pause ein und lehne mich dabei an einen von Glimmerpartikeln schimmernden Felsen. Ich feiere mit ein paar Schluck aus der gestern eigens für diesen Zweck gekauften Flasche Rotwein und kaue einen Streifen Beef Jerky. Schnell kehren meine Kräfte zurück. Rundherum Stille. Keine Menschenseele außer mir. Nur die markante, aus einem Firn- und Eispanzer herausragende Felspyramide des Similaun im Südosten leistet mir Gesellschaft. Mein hellgrüner Rucksack ist der einzige Farbklecks in dieser wunderschönen und zugleich lebensfeindlichen Urlandschaft. Nein, da gibt es noch einen: das Türkis des Vernagt-Stausees tief unter mir im Schnalstal.

 

Euer Andy!

#ötzi #tisenjoch #similaun #vernagt #schnalstal


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