Alpenüberquerung
Samstag, 05.08.2017
Auf der Similaun-Hütte war mir zu viel Trubel gewesen, weshalb ich gestern gegen meinen ursprünglichen Plan von der Ötzifundstelle noch hinab ins Tisenbachtal wanderte. Ich zelte in der Nähe der Reste eines merkwürdigen Baus: einem schneckenförmigen Labyrinth aus Steinen. Angeblich soll das kleine Gebäude prähistorisch sein. Sein Sinn und Zweck sowie seine Nutzung sind unbekannt. Ein Schaftstall? Ein heiliger Ort?
Sobald es hell wird breche ich auf. In dem Naturpark möchte ich von keinem Ranger campend angetroffen werden. Das würde zweifellos teuer werden. Die Italiener sind für horrende Geldstrafen bekannt.
Im kleinen Ort "Unser Frau" ergänze ich meine Lebensmittelreserven im DeSpar-Tante-Emma-Minisupermarkt. Mich giert nach Zucker. Zwei würzige Vinschgerl und ein kleines Glas Marmelade später fühle ich mich gestärkt für die Tagesetappe durch's Schnalstal hinab in das Vinschgau. Doch es wird Probleme geben.
Seit dem Tisenjoch bin ich nun auf italienischem Boden. Die aus Tirol gewohnte, tadellose Wegbeschriftung mit vorbildlichen Schildern ist Schnee von gestern. Mehrmals muss ich mein GPS zu rate ziehen, um den richtigen Weg zu finden. Es kann doch nicht so schwer sein aus diesem verflixten Tal hinaus zu kommen. Doch. Schon ist das Vinschgau in greifbarer Nähe, verschließt das Schnalstal mir den Weiterweg. Der Wanderweg vor mir ist gesperrt. Respekteinflößende, amtliche Verordnungen in Deutsch und Italienisch sagen unmissverständlich "Halt!". Die ganze Talflanke scheint in Bewegung und der Weg ist weggerissen. Ausweichen oder umgehen nicht möglich. Auf der Fahrstraße komme ich auch nicht weiter. Der lange Straßentunnel darf von Fußgängern nicht betreten werden. Jetzt ist guter Rat teuer. So oder so muss ich einen Gesetzesbruch begehen. Dann lieber im Gelände. Da fühle ich mich wohler als in der Zivilisation. Im Tunnel würde mich eine Videokamera schnell enttarnen, im Gelände komme ich wohl ungesehen davon.
Leider muss ich feststellen, dass die strengen Worte der amtlichen Wegsperrung nicht übertrieben waren. Nur sehr mickrige Steigspuren zeigen, dass sich schon andere Menschen vor mir hier durchgewagt hatten. Steile, in sich labile Schuttreißen fordern meine Konzentration. Diese paar hundert Meter mausern sich zum gefährlichsten Abschnitt meiner gesamten Alpenüberquerung! Dank meiner Trittsicherheit komme ich durch, nur um dem nächsten Problem Platz zu machen. Durst. Mein 2 Liter-Wasservorrat ist längst leergetrunken, die Sonne knüppelt die Temperatur auf über 30°C, ein Bach aus dem ich mit dem SteriPEN Wasser aufbereiten könnte, will einfach nicht kommen. Unterhalb Reinhold Messners Burg Juval lindert der von einem Baum herabgefallene Apfel meinen Durst. Er ist keine makellose Frucht, doch das ist mir egal. Nach dem Wildcampen und dem Missachten eines Betretungsverbots möchte ich jetzt nicht noch zum Apfeldieb werden, so bleiben die saftigen, einwandfreien Früchte am Baum.
Mehr in Trance als bei Bewusstsein erreiche ich die Talflur des Vischgaus. In den Sanitärräumen einer Raststation fülle ich endlich meine Trinkwasserreserven auf und trinke nebenbei mindestens zwei Liter des köstlichen Nass. In Naturns, inzwischen ist es mittlerer Nachmittag, lasse ich mich müde auf einer Bank am Ufer der Etsch nieder. Wie weit möchte ich heute noch laufen? Anders als für die meisten E5-Wanderer soll meine Alpenüberquerung nicht am Tisenhof im Schnalstal enden, an dem ich heute Früh vorbeigekommen war, sondern in Meran. Bis dort hin will ich aus eigener Kraft kommen. Kann ich in dem dichtbebauten Tal irgendwo zelten oder nehme ich mir ein Zimmer?
Nach dem Höhepunkt meiner Unternehmung bei der Ötzifunstelle, der Südtiroler Hochsommerhitze und dem schwierigen Weg aus dem Schnalstal heraus ins Vinschgau keimt in mir Heimweh auf. Der Blick auf die FlixBus-App zeigt, dass heute Nacht um 0200 Uhr ein Bus von Bozen nach Innsbruck und ein anderer von dort weiter nach Garmisch-Partenkirchen fahren würde. Ich wäre um 7 Uhr morgens daheim. Genau ein Platz ist noch frei. Sollte dies ein Zeichen sein?
Gut 30 Kilometer stecken mir heute schon in den Knochen, weitere 20 wären es noch bis Meran. Von dort aus könnte ich den Zug nach Bozen nehmen. Das Überprüfen des Sachverhalts auf meiner Bahn-App zeigt, dass im Prinzip stündlich bis weit in die Nacht hinein entsprechende Züge verkehren würden. Sollte meine Alpenüberquerung heute noch ihren Endpunkt und ihre Vollendung finden?
Euer Andy!
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